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Guten Abend, meine Damen und Herren,

wer diese Ausstellung betritt und erst mal nicht bestürzt, begeistert und erschlagen ist vor so viel schierem Können - dem ist schwer zu helfen. Denn man hat beim ersten Rundblick ein Gefühl fast grenzenloser Überschüsse. Man sieht einen Künstler, der sich technisch fast alles erlauben könnte - und fast alles erlaubt. Man sieht einen Künstler, der so selbstverständlich in der Gegenwart, in unserer vertrauten Alltagswelt agiert, als ob die großen Themen schlichtweg und buchstäblich auf der Straße lägen. Der ganz einfach findet, statt zu suchen. Aber dem die Gegenwart trotzdem ein Spielplatz ist, um in ihr das Spiel der Stile durchzuspielen.

Einerseits sind es ganz simple, klare Themenkreise: Kopenhagen, Venezuela und Venedig, München, die U-Bahn, und vor allem immer wieder die Cafés und Kneipen. Andererseits ist es ein glorioses Jonglieren mit Motiven der Kunstgeschichte, vor allem denen des klassischen Impressionismus. Denn natürlich ist der Ausgangspunkt all dieser Kneipenbilder letztendlich Edouard Manets berühmte „Bar in den Folies-Bergere" (dessen berühmte Spiegelungen mehrfach in sehr dicken Anführungszeichen mitzitiert sind). Aber es sind selbstverständlich auch die Interieurs Toulouse-Lautrecs. Es ist die übernächtigte Tristesse der amerikanischen Bars von Edward Hopper. Es sind die Kontraste zwischen Warenwelt und Wirklichkeit bei Richard Estes und den New Yorker Fotorealisten. Und dann ist es mittendrin auch mal das klassische Helldunkel Caravaggios, ein tiefwarmes Rembrandt-Licht oder ein durchlichteter Vermeer van Delft - nur dass die junge Dame vor dem Tisch am Fenster nicht in einen Brief, sondern ein e-Mail aus dem Drucker ihres PCs versunken ist.

Sie können, wenn Sie wollen, diese Zitierkunst, diese mitgedachte Vergegenwärtigung von Malereigeschichte hier in beinahe jedem Bild verfolgen. Nur - sie ist nicht der Gegenstand. Sie ist wie gesagt ein Überschuss, ein Auszahlen aus scheinbar unversieglichem Reichtum.

Alexander Kotchetow will etwas völlig anderes. Er ist ein Maler, ein Reporter und ein Seismograph. Er schafft die Bilder, von denen Photographen träumen, dass sie ihnen irgend wann einmal gelingen könnten. Denn es gibt sie wirklich. Und sie liegen im Wortsinn auf der Straße.

Denken Sie an die berühmte H&M-Reklame für Dessous mit Claudia Schiffer. Diese Kampagne hat vor ein, zwei Jahren die gesamte Republik bewegt; ganz einfach, weil die Schiffer auf den Plakaten so verdammt gut aussah (ich entsinne mich noch eines säuerlichen Feuilletons der „Süddeutschen", in dem die Autorin sogar Schützenhilfe aus dem Computer argwöhnte, weil derart perfekte Beine bitteschön nicht einmal Claudia Schiffer haben könne; und im übrigen seien derlei Bekleidungen Zitat! - „aus Zahnseide" für normal gebaute Frauen ohnehin eine Beleidigung).

Von diesem Dilemma berichtet auch die U-Bahn-Serie von Alexander Kotchetow, in der die legendären H&M-Plakate präzis eingewoben sind. Aber Kotchetow moralisiert nicht. Er zeigt einzig die absurde Spannung zweier Lebens-Temperaturen: zwischen der verkörperlichten Wärme der Plakate und der Kälte eines realen Bahnsteigs. Zwischen der papierenen Nacktheit und lebendiger Verhüllung. Zwischen einer riesenhaften, mitten in den öffentlichen Raum gestellten Intimität und den intimen Augenblicken einer scheinbar wahllos flutend anonymen Masse. Zwischen inszenierter "Cleanness" und dem unausweichlichen Altagsschmuddel, der sich gerade im Umfeld deutscher Bahn-Anlagen zum notorischen Alptraum verdichtet.

All dies wäre als beschriebene Erkenntnis durch und durch banal. Doch als Bild wird es zum Zeitbild. Und man wird an Alexander Kotchetows Gemälden, - Zeichnungen und Aquarellen in fünfzig oder hundert Jahren das innere „Klima" unserer Jahrtausendwende ebenso präzis ablesen können wie etwa das der frühen Gründerjahre aus den Bildern Menzels.

Und speziell das Bild, das er uns von den Münchner Kneipen hinterlässt, ist unvergleichbar stimmig. Es gab einen hochgemuten James-Joyce-Exegeten, der dem "Ulysses" nachrühmte, man könne Dublin, falls es irgendwann verschwinden sollte, allein nach diesem Buch Stein für Stein wieder errichten. Worauf ein etwas nüchternerer Exeget erwiderte: das nun gerade nicht. Aber zumindest Dublins Pubs - die seien dank „Ulysses" mühelos rekonstruierbar.

So etwa geht es mir (und wohl auch Ihnen) mit Kotchetows Kneipenbildern. Sie reproduzieren eine Wahrheit, die weit über bloße Malerei hinausgeht. Wir spüren die stets zugige und trotzdem überhitze Luft. Wir riechen Alkohol, die Zigaretten und das alt gewordene Bratfett der Küche. Wir wittern das ein bisschen widerliche Parfüm der Deos nach acht Stunden auf der Haut. Wir atmen das verbrannte Stearin der Kerzen auf den Tischen. Selbst die Weißbier -Marke ahnen wir. Und wir erkennen Kellnerin und Barmann gleichsam mit Vornamen wieder.

So etwas schafft sonst allein die Wirklichkeit. Und die nur selten. Selbst dem ungleich mächtigeren Kino glückt es in der Regel nicht. Oder erinnern Sie sich spontan an eine entsprechende Szene, bei der sie nicht de facto einzig Popcorn gerochen hätten?

Dabei erzeugt Kotchetow diese phantastische Atmosphäre nicht so sehr mit dem, was er tatsächlich malt. Sondern viel mehr mit dem, was er beim Malen weglässt. Denn seine Bilder sind - auch - ein phantastischer Betrug der Wahrnehmung. Wir sehen sie und glauben, etwas atemberaubend Detailliertes zu sehen. Dabei sehen wir in Wahrheit eine Malerei der duftigen, ganz lockeren Andeutung. Nur ein paar wenige Stellen sind präzis und fast schon überdeutlich ausgeführt. Der Rest sind nur Valeurs, sind atmosphärisch unbestimmte Schimmer. Aber immer noch gerade so genau, dass unser Auge sich den Rest perfekt ergänzt.

Wenn Sie erleben wollen, was die Malerei auf diesen Grenzfeldern tatsächlich kann, empfehle ich Ihnen, sich die Lichter auf den Flaschen in Kotchetows Aquarellen anzusehen. Wobei ich nicht daran erinnern muss, dass „Lichter" im Aquarell grundsätzlich weißes Papier bedeuten, als gerade eine nicht bemalte Stelle. Und dann bitte überlegen Sie sich, wie präzis ein Maler kalkulieren muss, um praktisch vor dem ersten Strich zu wissen, wo später an einer scheinbar peripheren Stelle bei ein paar Flaschen ein Reflex aufblitzt. Oder schauen Sie sich die Schatten auf der Haut der Kellnerinnen an. Sie denken, Schatten seien einfach ein bisschen dunkler als die hellen Stellen, aber sonst von etwa gleicher Farbe? Völlig falsch. In rötlich gelbem Licht zum Beispiel werden Schatten grünlich blau. Und also setzt Kotchetow manchmal simple grüne Striche. Aber unser Auge macht daraus ein rosig graues Dämmern.

Derlei kann man selbstverständlich lernen. Nicht mehr unbedingt an unseren Akademien, denen andere Kriterien längst wichtiger geworden sind; aber doch offenbar in Orten wie Kiew, wo Kotchetow sich sein akademisches Können angeeignet hat. Jedoch - den Blick, der solchen Techniken erst Sinn verleiht; jedoch - jenes Gefühl für Stimmungen, das Farben zum Vibrieren bringt: dergleichen lernt man nicht (auch wenn die guten Maler es schon immer konnten). Und was man tatsächlich nicht erlernen kann und was Kotchetow derart beherrscht, dass es uns manchmal schaudert, ist die feinste aller Kunst-Essenzen: das Fluidum zwischen Menschen.

Körpersprache ist ein dummes, aber populäres Wort. In Wahrheit ist es eine ganz leise Melodie von Gesten und Haltungen, die man im Leben kaum je mit Bewusstsein wahrnimmt, aber die in unserer Seele - und in diesen Bildern tönende Musik entfaltet. Nehmen Sie zum Beispiel droben den Kellner und das Fräulein in einem sonst noch leeren venezianischen Straßencafé. Im Grunde ist die Szene in sich völlig logisch, durchaus konventionell und unverfänglich. Überdies zeigt uns Kotchetow beide Akteure nur am Rand des Bildes von hinten, wie versehentlich ins Bild geraten. Aber was die bloße Haltung der Beiden erzählt, ist atemberaubend: seine ein bisschen allzu lässig provokanten, an der Stuhllehne und in der Hüfte abgestützten Hände mit den entsprechend schief gestellten Schultern; ihre Abwendung und Abwehr, ihre in den weiten weißen Mantel gleichsam eingerollte Igel-Haltung: aber dann doch der zurückgedrehte Kopf und das zurückgeworfene Haar und dieser eine skeptisch interessierte Blitz im Augenwinkel. Einzig dieses interaktive Spiel der Haltungen und Gesten reicht, um einen Roman daraus zu machen - und uns alle zu Voyeuren.

Manchmal kann Kotchetow diesem Gespür für Situation auch dann nicht widerstehen, wenn es allzu sehr zur Pointe hintendiert. Aber selbst dann sind seine Bilder unwiderstehlich. Zum Beispiel, wenn ein junger Mann im Schlosspark völlig blind für die umgebende Schönheit in sein Handy quasselt - und der würdevolle Ausdruck einer barocken Gartennymphe über ihm allein durch diesen Kontext etwas maßlos Angeödetes, Genervtes annimmt.

Etwas skeptisch stimmen mich auch jene Szenen, die sich zu sehr einem sportiven Genre, etwa dem Pferderennen oder dem Stierkampf, ausliefern. Denn da nimmt das Typische zu fühlbar überhand. Da bleibt zu wenig Platz für eben jene Zwischentöne, die nur er so kann, wie er sie kann.

Wo er sie aber zulässt, sind sie einzigartig. Dieser Siesta-Moment in einer Kneipe, in dem sich Blicke zwischen Wirt und Kellnerin vor Müdigkeit und Leere nicht mehr treffen, jeder ganz für sich ist und dem andern in der Ausgebranntheit trotzdem nahe. Wahrend das atemberaubend rückenfreie Top des Mädchens zusammen mit ihrem dicken Kassengürtel und der Schürze einen weiteren, schmerzhaften Kontrast darstellt, den allerdings nur wir Zuschauer, doch nicht mehr die Beiden bemerken.

So schön, so wahrhaftig und exakt kann Malerei sein. Gehen Sie und Sehen Sie! Genießen sie! Denn so viel Leben in der Kunst und so viel Kunst im Leben gibt es nur an ganz besonderen Tagen.

Danke schön.